Slow Risk oder: Warum es gut ist gelegentlich etwas zu riskieren

The Seasick Sailoress
6 min readNov 4, 2020

Wann hast du es das letzte Mal getan?

Wann hast du das letzte Mal etwas riskiert? Erst kürzlich? Oder ist das schon so lange her, dass du dich gar nicht mehr erinnerst? Wie stehst du dem Begriff Risiko gegenüber, eher positiv oder eher negativ? Bei einer persönlichen, natürlich nicht repräsentativen Umfrage in meinem Umfeld waren sich die meisten der Befragten einig, indem sie (bis auf wenige Ausnahmen) in ihrem Leben versuchten, Risiken weitestgehend zu vermeiden. Dabei kamen zwei Dinge heraus, zwei Grundannahmen quasi:

  1. Risiko ist groß.
  2. Risiko ist naiv bzw. verantwortungslos.

Wenn Menschen von Risiken sprechen, meinen sie damit meist etwas Großes. Einen Umzug in eine andere Stadt oder in ein anderes Land. Den Job zu kündigen ohne einen neuen zu haben. Sein ganzes Geld in die Hand zu nehmen und ein renovierungsbedürftiges Haus zu kaufen (oder ein Boot hehe).

Und was sind das überhaupt für Leute, die regelmäßig Risiken eingehen? Doch wohl hauptsächlich entweder skrupellose Investmentbanker oder diese Extremsportler, die ohne Sicherung irgendwelche Felswände hochklettern, und von denen immer mal wieder einer abstürzt. Das ist jetzt freilich überspitzt, aber der Begriff Risiko ist gerade in Deutschland überwiegend schlecht besetzt. Wohingegen Sicherheit! Sicherheit und Kontrolle sind gleichbedeutend mit Verantwortung. Risiko ist quasi die böse Stiefschwester von Sicherheit.

Das Risiko ist viel besser als sein Ruf

Aber da tut man der Stiefschwester Unrecht, Risiko ist besser als sein Ruf. Laut Definition ist Risiko „ein mit einem Vorhaben verbundenes Wagnis“ bzw. „ein möglicher negativer Ausgang einer Unternehmung“ und die „Möglichkeit des Verlustes“. Da aber das Leben nicht vorhersehbar ist und sich nur so verflixt schlecht kontrollieren lässt, beinhalten auf die ein oder andere Art alle Pläne, die die Zukunft betreffen, automatisch auch immer Risiken.

Mit dem großen Unterschied, dass wir die dann nicht bewusst eingehen, sondern wir uns von nicht geplanten Geschehnissen aus der Bahn werfen lassen (wir dachten ja schließlich, wir hätten alles unter Kontrolle). Ob das jetzt der geplante Lebensabend ist, für den man so lange hart gearbeitet und gespart hat, und wo einem dann das Leben mit einer Krankheit oder einem Unfall dazwischengrätscht. Oder die Beförderung, wegen der man immer noch in der gleichen Position festhängt, obwohl sie einen total ankotzt, und dann wird schwupps die ganze Abteilung aufgelöst. Schade schade Schokolade.

Das soll jetzt überhaupt nicht heißen, dass alle Planungen sinnlos sind. Wir sollten uns nur darüber bewusst sein, dass wir, sobald wir Aussagen über unsere Zukunft treffen und diesbezüglich Entscheidungen fällen, immer ein Risiko eingehen, und es immer mehrere mögliche Szenarien gibt, Der Trick für ein entspanntes Leben ist, sich auf die Unvorhersagbarkeit vorzubereiten und ein gewisses Maß an Vertrauen in die Selbstorganisationsprozesse des Lebens zu gewinnen.

Die Angst vor Fehlern ist nicht angeboren

Wir haben natürlich Angst davor Fehler zu machen. Eine falsche Entscheidung zu treffen, die wir hinterher bereuen könnten. Während wir noch als Kleinkinder durch Versuch und Irrtum das Laufen und das Sprechen lernen (ganz zu schweigen von einer unüberschaubaren Anzahl motorischer Fähigkeiten), wird uns in der Schule das Fürchten vor Fehlern gelehrt. Dabei ist es viel besser aus einem Fehler zu lernen, als zufällig etwas richtig zu machen.

Ich kann mich gut erinnern, als mein Sohn eines Tages von der Grundschule nach Hause kam, heulend, er hatte eine Vier auf eine Rechenprobe bekommen. Folgefehler. Er zeigte mir die Probe und konnte genau erklären, was er falsch gemacht hatte, und wie er es hätte richtig machen müssen und warum. Wow! So ein Lernerfolg, und er saß da, tränenüberströmt und wütend auf sich selber. Hätte er die Aufgaben zufällig richtig gelöst, hätte er zwar eine Eins bekommen, aber dabei nichts gelernt. Wir sind auf diesen Erfolg hin erstmal Eisessen gegangen.

Kinder lernen durch Versuch und Irrtum laufen und sprechen.

Sicherheit durch Kontrolle ist eine Illusion

Besessen vom Gedanken, alles kontrollieren zu können, sind wir beschäftigt damit einen Zustand von Sicherheit herzustellen, den es aber gar nicht geben kann. Sicherheit im Sinne der Kontrollierbarkeit ist eine Illusion. Das klingt vielleicht erst mal frustrierend, aber tatsächlich muss es das gar nicht sein. Nicht das Ziel der Sicherheit ist ja die Illusion, sondern nur das Mittel der Kontrolle. Es geht also darum Sicherheit in eben der Nicht-Kontrollierbarkeit zu finden. Wenn nämlich alles passieren kann, dann kann auch alles passieren.

Schön und gut, sagst du jetzt vielleicht. Aber, wie liebe Rike, soll das nun bitte gehen? Sicherheit in der Nicht-Kontrollierbarkeit zu finden? In dem du übst, Risiken einzugehen! Keine Sorge, das müssen überhaupt keine großen Risiken sein. Tatsächlich riskierst du jedes Mal schon was, wenn du dich aus deiner Komfortzone begibst. Und auch ein kleines Risiko ist immer noch ein Risiko. Wichtig dabei sind zwei Dinge: Zum einen sollte ein Risiko immer einen für dich abschätzbaren und verkraftbaren Worst Case bedeuten — nicht schlimmer! Und zum anderen sollte dein Risiko auch keine negativen Auswirkungen auf andere haben. Also ist Hochfrequenzhandel an der Börse damit weniger gemeint.

Wir haben uns z. B. Geld für unser Boot geliehen und haben es schon deshalb gut versichert. Allerdings mussten wir ganz schön nach einer Versicherung suchen, die Schäden auch abdeckt, wenn wir nach Westafrika segeln. Das war gar nicht einfach, die deutschen Versicherer sind da eher konservativ.

Wäre es jetzt nur unser Geld gewesen, das in der Schüssel steckt, hätten wir natürlich sagen können, das Risiko nehmen wir auf uns. Wir sind nur wenige Wochen in der Region, da wird schon nichts passieren. Weil es nun aber nicht nur unser eigenes Geld war, das auf dem Spiel stand, ging das auf keinen Fall. Hätten wir keine Versicherung gefunden, die den Senegal mit einschließt, hätten wir nicht dahin segeln können. Zum Glück hatten wir Glück.

Unser “Liegeplatz” in Dakar. Deutsche Versicherer versichern Boote für Westafrika sehr ungern. Ohne Versicherung loszusegeln wäre aber ein unfaires Risiko denjenigen gegenüber gewesen, die uns mit ihrem Darlehen vertraut haben.

Diese Art von Risiko nenne ich übrigens Slow Risk. Bei Slow Risk geht es ums Hier und Jetzt. Es geht darum sich selbst besser kennenzulernen, die eigenen Ängste und Grenzen zu spüren, sich aber bewusst für oder gegen sie zu entscheiden zu können. Es geht auch um gute Beziehungen, denn je besser ich gelingende Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen kann, desto mehr Sicherheit habe ich in der Unsicherheit und im Risiko.

Praktische Tools und Übungen

Hier nun ein paar praktische Übungen und Methoden, die du ganz leicht in den Alltag einbauen kannst. Wichtig ist vor allem das Experimentieren. Verschiedene Übungen und Strategien funktionieren unterschiedlich für verschiedene Menschen:

  1. Feedback bei der Arbeit einholen
  2. Eine (kleine) Entscheidung treffen, obwohl man noch nicht alle Alternativen kennt
  3. Etwas alleine tun, das du normalerweise nur in Begleitung anderer machst — bei mir war das z. B. ins Kino zu gehen.
  4. Immer die Endpunkte überlege , wenn du vor einer Entscheidung stehst: den Worst Case definieren, den Best Case visualisieren (hier zeige ich dir z. B., wie das mit dem Visualisieren geht).
  5. Ein Risikotagebuch führen! Ganz wichtig dabei, ist es auch deine Emotionen zu beobachten und festzuhalten. Was macht dir Angst? Was hilft dir? Was brauchst du?

Das klingt alles total banal, und die Übungen hören sich wenig riskant an? Das ist genau der Punkt! In jedem Moment, in dem du bewusst die Kontrolle an der Garderobe abgibst, und dich in eine Erfahrung hineinfallen lässt — egal ob sich der Fall nur nach wenigen Millimetern oder schon nach einem ganzen Meter anfühlt — riskierst du etwas. Und du wirst die Erfahrung machen, dass Dinge passieren, die du nicht vorhersehen hast können. Du wirst auch feststellen, dass es immer weiter geht, egal, ob du deine Entscheidung nun im Nachhinein als richtig oder falsch einstufen würdest. Hier findest du übrigens noch mehr zum Thema Ungewissheit aushalten.

Wenn dich das Thema Ungewissheit interessiert, dann melde dich zu meinem Newsletter an.

In diesem Sinne: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser :)

Oder jetzt noch mal poetischer:

Ich setzte meinen Fuß in die Luft,

und sie trug.

Hilde Domin

--

--

The Seasick Sailoress

Uncertainty Expert | Future Thinker | Blue Water Sailoress Hallo I’m Rike. When I’m not thinking about uncertainty and randomness, I sail the oceans.