Mit Ungewissheit leben
Drei Anhaltspunkte.
Vielleicht kennst du das. Du hast eigentlich die Nase voll von dem, wie es ist, aber du traust dich nicht so richtig, was zu ändern? Du weißt vielleicht auch nicht genau, wie so eine Veränderung aussehen könnte, und dieses Nicht-Wissen hält dich total zurück? Oder vielleicht hast du sogar schon eine Vision, einen Traum oder eine Idee, aber du bist dir nicht sicher, ob das klappen könnte und du willst nichts riskieren?
Dann solltest du dich vielleicht mit deiner Unsicherheitstoleranz beschäftigen — mit deiner Fähigkeit Ungewissheit auszuhalten. Warum? Ganz einfach: würde dir ein offener Ausgang keine Angst machen, könntest du auch einfach ins kalte Wasser springen. Wärst du in der Lage, Ungewissheit als Chance zu sehen, würdest du ganz anders mit deiner Gegenwart umgehen und Dinge ganz anders auf dich zukommen lassen. Und genau das ist Unsicherheitstoleranz. Wir werden eigentlich damit geboren, aber vielen wird sie während der Schulzeit abtrainiert, das ist total schade, denn: indem wir Angst vor Fehlern entwickeln (Fehler = Rotstift!), verlernen wir Dinge auszuprobieren. Dabei war es genau die Fähigkeit aus Fehlern zu lernen, die es dem Menschen ermöglicht hat, sich weiter zu entwicklen!
Unsicherheitstoleranz wird nicht ohne Grund von vielen die Fähigkeit des 21. Jahrhunderts genannt. Unsicherheitstoleranz…
- …macht es dich mutiger
- …hilft dir Entscheidungen zu treffen, weil du keine Angst vor Fehlern hast
- …erlaubt es dir solange herumzuprobieren, bist du herausgefunden hast, was dir entspricht
- …ermöglicht es dir viel öfter auf dein Herz bzw. auf deinen inneren Kompass zu hören
- …macht Schluss mit schlaflosen Nächten, Kopfzerbrechen und Zukunftsängsten
- …lässt dich entspannter sein
Das tolle ist, Unsicherheitstoleranz kann man lernen!
Hier sind ein drei Methoden, die dir dabei helfen, Ungewissheit besser auszuhalten.
1. Den Endpunkt finden
Diesen Tipp hat mir vor vielen vielen Jahren eine befreundete Psychotherapeutin gegeben. Es ging damals um meine Ängste mit Kind allein ins Ausland zum Studieren zu gehen. Sie nannte die Übung „den Endpunkt finden“ und sie geht ganz einfach. Meine große Sorge damals war zum Beispiel, dass ich ganz alleine in einer komplett fremden Umgebung mit einem Kleinkind nicht zurechtkommen würde. Hier war der Endpunkt ganz einfach zu finden — wenn ich wirklich gar nicht zurechtkäme, dann würde ich einfach abbrechen und zurück nach Deutschland gehen. Eine andere Sorge war auch, dass ich mich ziemlich alleine fühlen könnte.
Meine Freundin fragte mich also: „Ja und dann? Du würdest dich alleine fühlen, und weiter?“
Ich: „Dann säße ich wohl abends alleine in der Wohnung und würde mir selber Leid tun.“
Sie: „Und dann?“
Ich: „Dann würde ich wahrscheinlich ein paar Zigaretten auf dem Balkon rauchen mit einem Glas Wein in der Hand und früh ins Bett gehen. Oder schlechte Filme mit zu viel Werbung auf HBO schauen.“
Sie: „Ja und weiter?“
Ich: „Das würde mir wahrscheinlich irgendwann langweilig werden. Vielleicht würde ich dann anfangen zu stricken. Oder zu schreiben.
Sie: „Ja und dann?“
Ich: „Naja, ich bin ja schon recht gesellig, vielleicht lerne ich auch Leute an der Uni kennen, die mich abends besuchen kommen.“
Huch! Und schon war sie weg, die Angst vor dem Alleinsein. Ich habe dann tatsächlich am Anfang meines Auslandssemesters in Taiwan mit Kleinkind wahrscheinlich ein paar zu viele Zigaretten geraucht und Wein getrunken und alle Vampirfilme gesehen, die jemals gedreht worden sind (die Filmauswahl des englischsprachigen Bezahlfernsehens war etwas, äh, einseitig), aber ich bin nicht an Einsamkeit gestorben. Ich habe irgendwann angefangen für Familie und Freunde daheim zu bloggen und tatsächlich nette Leute an der Uni kennengelernt, die es sogar manchmal auf sich genommen haben, abends noch zu mir an den Stadtrand zu fahren um mich zu besuchen (bei meinem zweiten Taiwan-Aufenthalt war das dann auch der Grund mir eine Wohnung in einem belebten und beliebten Viertel von Taipei zu suchen, damit mich auch ja viele Freunde besuchen konnten!), und ich habe dann sogar noch eine nette taiwanische Mami mit gleichaltrigem Sohn (also gleichaltrig zu Jari) getroffen, mit der ich viel Zeit verbracht habe. Nur gestrickt habe ich nicht, was alle, die mich kennen, erleichtert hat aufatmen lassen dürfen.
Natürlich sind nicht alle Ängste so einfach und schnell aufzulösen. Aber die Übung hilft eigentlich immer, weil sie greifbarer macht, wovor wir Angst haben und uns zwingt uns damit auseinanderzusetzen. Und zwar Schritt für Schritt ohne uns zu überfordern.
2. Emotionale Fitness
Emotionale Fitness heißt, sich seiner Emotionen bewusst zu sein ohne von ihnen überwältigt zu werden. Die Psychologin, Mitbegründerin und stellvertretende Direktorin des Harvard Institutes of Coaching Dr. Susan David (hier lang zu ihrem großartigen Buch übrigens: Emotional Agility) hat gesagt: „Emotions are data, not directions.“
Damit meint sie, man muss Emotionen wahrnehmen, sich aber nicht unbedingt von ihnen leiten lassen. Emotionen sind zuallererst einmal nur eine Information, auf die wir im Laufe unseres Lebens gelernt haben auf eine bestimmte Weise zu reagieren. Das heißt aber nicht, dass die erlernte und gewohnte Reaktion richtig ist oder uns weiter bringt.
Emotions are data, not directions.
Dr. Susan David
Emotionale Fitness heißt auch, sich selbst möglichst gut zu kennen, oder um es mit Edgar Schein, dem MIT Organisationsentwickler zu sagen,
„Jeder einzelne hat die Tendenz auf bestimmte Daten mit bestimmten Emotionen zu reagieren. Über diese Tendenz muss man so viel wie möglich in Erfahrung bringen, um die Situationsangemessenheit der jeweiligen Emotion beurteilen zu können.“
Wir müssen uns also lernen genau zu beobachten ohne sofort ins Bewerten zu rutschen. Emotionale Fitness bedeutet übrigens NICHT Emotionen wegzudrücken, damit erreicht man nämlich genau das Gegenteil, nämlich Stress, Unzufriedenheit und Frust bis hin zu Krankheit. Genauso wenig sollten wir uns in unseren Gefühlen baden und uns alles selber glauben. Der Weg zu emotionaler Fitness sieht also folgendermaßen aus:
- Emotionen zulassen, statt sie zu unterdrücken
- Emotionen wahrnehmen, seine Aufmerksamkeit auf sie richten und sie neugierig betrachten
- sich fragen, was die Emotion bedeutet, worauf sie hinweist und wo sie herkommt
- die Emotion loslassen (wahrscheinlich der schwierigste Teil, aber es gibt ein paar Hilfsmittel, wie z. B., alles aufzuschreiben und den Zettel zu verbrennen. Ich selber schreibe nur auf, ohne meine Notizen hinterher zu zerstören, weil ich es gerne immer wieder lese, das hilft mir genauso. Wichtig ist nur, sich die Emotion von der Seele zu schreiben, Abstand zwischen sich und seine Gedanken und Gefühle zu bringen.)
- prüfen, ob Handlungsbedarf besteht und erst dann (!) handeln
It’s better to believe IN yourself
than to always believe yourself.
Rike Pätzold
Ein kleiner Schwank dazu aus meinem Leben: Letzten Sonntag gingen eine befreundete Familie und wir an die Isar um den spektakulären Frühlingstag zu nutzen. Es gibt in der Isar kleine Kiessinselchen, auf denen es sich wunderbar in der Sonne liegen lässt und zu denen man durchs kalte Isarwasser waten muss, dahin wollten wir. Der Haussegen hing allerdings ziemlich bald ziemlich schief: Mein Sohn Jari haute kurz vorm Ziel beleidigt ab, weil er zu einer anderen Stelle wollte.
Ich selber war auch nicht so scharf mit meinen Prinzessinnenfußsohlen über die Steine durch den eisigen Fluss zu laufen. Super Voraussetzungen also. Natürlich war es dann auch äußerst unangenehm, saukalt und ziemlich schmerzhaft, meine Fußreflexzonen waren am Ausflippen. Und natürlich fiel mir dann auch noch ein Schuh aus der Hand ins Wasser. Ich spürte schon heiße Tränen aufsteigen, aber da war ich auch schon auf dem Inselchen (sonst hätte ich mich an Ort und Stelle auf den Boden ins kalte Wasser gesetzt und gebockt). Ich habe dann noch angemessene fünf Minuten rumgestänkert, aber glücklicherweise kennen mich meine Familie und Freunde so gut, dass sie mich nur gerade ernst genug nehmen, um ein bisschen betroffen zu nicken, ohne aber weiter auf mein Gemoser einzugehen (hinterher haben sie gestanden, dass sie sich innerlich schlappgelacht haben, echte Freunde halt :P). Das hat mir wiederum geholfen, aus meiner wütenden Verzweiflung auszusteigen, von außen draufzuschauen und zu folgender Erkenntnis zu kommen:
Die Kombination aus schlechtem Gewissen („ich bin eine schlechte Mutter, weil mein Kind gerade stinksauer, verzweifelt und mutterseelenallein nach Hause gefahren ist!“), dem Gefühl nicht gesehen zu werden („Wieso fragt mich eigentlich keiner, was ich will?! Alle Menschen auf der ganzen Welt wissen doch, wie empfindlich meine Füße sind und niemanden interessiert es. Niemanden!“) und körperlichem Schmerz ergab ein explosives Gemisch. Das wiederum hat sofort zu einer sehr einseitigen Einschätzung der Situation und einer nicht konstruktiven Bewertung geführt („Das Leben ist so schrecklich unfair. Meine Freunde sind gemein zu mir. Ich bin eine schreckliche Mutter.“). Das tolle an dieser Erkenntnis: Das war ich ganz alleine! Meine Freunde und meine Familie mögen mich eigentlich meistens schon ganz gern, das ist alles in meinem Kopf und ich kann mit etwas Übung jederzeit aus meinen Emotionen aussteigen. Vorausgesetzt, ich will das überhaupt, aussteigen. Weil manchmal muss man sich auch einfach mal im Selbstmitleid baden, hilft alles nix.
3. Dinge aussitzen
Dieser Punkt ist vielleicht der schwierigste, weil es eben darum geht, nichts zu tun. Stattdessen müssen wir lernen loszulassen und zu vertrauen. Und Vertrauen ist vor allem eine Erfahrungssache, je öfter wir es schaffen erfolgreich nichts zu tun, desto mehr vertrauen wir, dass alles irgendwie gut wird.
Aber wie soll das aussehen, wirst du dich vielleicht jetzt fragen? Die Dinge regeln sich nunmal nicht von allein! Berechtigter Einwand, aber: Bist du dir da sicher? Wann hast du es das letzte Mal versucht? Nur, weil wir uns in dem Moment keine Lösung vorstellen können, heißt das nicht, dass es die nicht gibt. Ganz oft kommt sie dann von selber aus völlig unerwarteter Richtung um die Ecke.
Wir müssen uns dringend von der Illusion lösen, das Leben sei planbar, das ist es nämlich nur sehr eingeschränkt. Erstens kommt alles anders und zweitens als man denkt. Indem wir immer alles versuchen zu planen und kontrollieren, schränken wir uns außerdem enorm ein.
Das wichtigste ist dabei, offen zu bleiben. „Why not“ statt „Yes but“. Dinge aus der Hand zu geben, sie dem Zufall zu überlassen, der ist nämlich immer gut für Überraschungen. Keine Angst vor dem Chaos zu haben, denn — und das sollten wir nie vergessen — Chaos ist der Urzustand von allem und Chaos bietet ein Maximum an Möglichkeiten — es kann also alles passieren, man muss es nur lassen.
Wir müssen uns dringend von der Illusion lösen, das Leben sei planbar.
Rike Pätzold
Probier es einfach aus und mach eigene Erfahrungen. Du hast ein schwer lösbares Problem? Hör auf darum zu kreisen und geh stattdessen (ziellos) spazieren. Oder leg dich eine Weile hin, wenn es die Umstände erlauben (unser Gehirn arbeitet übrigens erwiesenermaßen hervorragend im Schlaf). Und nur, weil sich ein Problem jetzt und im Moment nicht lösen lässt, heißt das nicht, dass es nicht morgen oder in ein paar Tagen oder erst in einer Woche zu lösen sein wird, manche Dinge brauchen einfach Zeit.
Tue Dinge, die du nicht geplant hast. Sprich mit der Person neben dir an der Bushaltestelle. Surf mal wieder ohne bestimmte Agenda im Internet (damit meine ich nicht mal Facebook, Youtube oder andere Berieselungsseiten, obwohl es hier natürlich auch immer wieder was zu entdecken gibt) und lass dich von deinen Interessen leiten. Ich bin so schon auf die spannendsten Artikel, Buchtitel und Personen gestoßen.
Mein letzter Monat war übrigens so ein Loslass-Monat. Als ich Mitte März zum Boot geflogen bin, hatte ich noch keinen Rückflug nach München (die waren alle noch viel zu teuer wegen der Osterferien), keine Ahnung, wie ich alle auf mich zukommenden Kosten vom nächsten Monat bezahlen würde (die Liegegebühr fürs Boot und unsere gesamten Versicherungen wurden im April fällig), weil ein paar meiner Auftraggeber meine Rechnungen noch nicht bezahlt hatten, und dann war da noch eine komplizierte Krankenversicherungssituation, für die ich keine Lösung wusste.
Anstatt mir die Haare zu raufen und mir den Kopf zu zermartern, habe ich in meiner Freizeit Facebook-Lives gehalten (mein allergrößter Horror übrigens), war viel am Meer spazieren und habe lecker gekocht. Drei Tage später gab es plötzlich einen günstigen Direktflug zurück München und das sogar an meinem Wunschdatum. Eine Woche später rang ich mich durch und rief meinen Sachbearbeiter bei der Krankenversicherung an und die komplizierte Situation löste sich einfach in Luft auf. Und kurz nach meiner Rückkehr nach München wurden gleich zwei meiner Rechnungen beglichen, und ich konnte alles auf einen Schlag bezahlen.
In diesem Sinne: Ausatmen, Füße spüren und loslassen.
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