Warum Ungewissheit viel besser ist als ihr Ruf und wie man von ihr profitiert

The Seasick Sailoress
6 min readAug 20, 2019

In diesem Artikel zeige ich dir, warum Ungewissheitstoleranz und die Fähigkeit, Ungewissheit zu seinem Vorteil zu nutzen, immer wichtiger werden und wie du beides lernst.

Ungewissheit hat in unserer Welt einen schlechten Ruf. Wir sind es inzwischen gewöhnt alles kontrollieren und planen zu können. Wir brauchen Gewissheit um uns sicher zu fühlen.

Das Problem ist dabei nur: Sicherheit durch Kontrolle ist eine Illusion. Die Zukunft ist zu komplex (und sie wird mit jedem Tag komplexer), als dass wir sie vorhersagen könnten. Wir können uns weder unseres Jobs, unserer Gesundheit, unseres Rufs noch unseres Umfelds sicher sein. Die letzte große Wirtschaftskrise hat mit erschreckender Deutlichkeit gezeigt, dass es gefährlich ist, sich in Sicherheit zu wähnen und von Stabilität zu sprechen. Leider hat sich seitdem die Finanzwelt nicht viel verbessert und Nassim Nicholas Taleb, der auch schon die Krise 2008 „vorhergesehen“ hat, sagt, es könnte bald wieder krachen — und zwar noch heftiger.

Also alles ganz schrecklich? Sollen wir am besten auf einen Berg ziehen und Proviant für die nächsten 50 Jahre bunkern?

Kann man machen, muss man aber nicht. Was tatsächlich sinnvoller und auch alltagstauglicher wäre, ist einen neuen Blick auf Ungewissheit selbst zu entwickeln. Die kann man sich nämlich auch zur Komplizin machen! Wie das geht, dazu komme ich gleich.

Sei kein Truthahn

Ein Truthahn wird tausend Tage lang gefüttert. Jeden Tag fühlt er sich darin bestätigt, dass die menschliche Rasse sich um sein Wohlergehen sorgt, und an jedem weiteren Tag erhärtet sich diese Feststellung mehr. Bis er auf einmal am Tag vor Thanksgiving eine böse Überraschung erlebt. Dumm gelaufen.

Sei kein Truthahn! Von der Vergangenheit auf die Zukunft zu schließen, hat seine Tücken.

Nassim Nicholas Taleb, einst Börsenhändler und jetzt Professor für Risikoforschung in New York, hat mit dieser Metapher die Debatte um die Finanzkrise bereichert. Es geht um die Erkenntnis, dass der arme Truthahn bis zu seinem für ihn überraschenden Ableben nur von der Vergangenheit ausging, die aber dummerweise nichts über die Zukunft aussagt. Und so ist es immer, wenn es um Vorhersagen geht — Risikoexperten orientieren sich meist am schlimmsten Fall in der Vergangenheit und nehmen den bei ihren Berechnungen und Einschätzungen bezüglich der Zukunft als Ausgangspunkt. Das ist leider eine ziemlich unzuverlässige Methode, wie sich immer und immer wieder zeigt.

Systeme brauchen Störungen

Was auch keine gute Methode ist, um Stabilität und Sicherheit zu erreichen, ist Kontrolle und das Bestreben, Ungewissheit und Unvorhergesehenes auszumerzen. Systeme brauchen (kleinere) Störungen und Fehler um sich zu entwickeln und um zu lernen. Der Zufall hat tatsächlich schon immer eine wichtige Rolle für den Fortschritt gespielt. Fehler sind Informationen — Informationen, die wir dringend brauchen um weiterzukommen. Keine Fehler, keine Informationen. Ohne Informationen keine Bewegung, und was ist das Gegenteil von Bewegung? Genau, Stillstand.

Das heißt also, dass es besser ist, kontinuierlich kleine Fehler zu machen anstatt eine ganz lange Zeit gar keinen. Warum? Weil wir Systeme dadurch abhärten und weil kleine Fehlerquellen dadurch schneller zutage treten (ein guter Vergleich ist das Prinzip der Impfung). Wenn man dagegen versucht ja um keinen Preis Fehler zu machen und das auch eine zeitlang bewerkstelligt, ist das System eben nicht vorbereitet und reagiert umso heftiger auf Störungen. Die Eltern, die alles hygienisch sauber machen, tun ihren Kinder am Ende keinen Gefallen, weil sich deren System nicht an die Erreger gewöhnen kann, die im Umlauf sind.

Wie ist man also kein Truthahn? Wie wird man stabil UND profitiert sogar von Ungewissheit? Nassim Nicholas Taleb, der schon erwähnte Wissenschaftler, der uns vor dem letzten Banken-Crash gewarnt hatte, nennt diesen Zustand (in der Lage zu sein Ungewissheit zu seinem Vorteil zu nutzen) Antifragilität.

Diese 3 Dinge helfen dir, Ungewissheit zu nutzen

1. Bestandsaufnahme: Was habe ich, was kann ich, wen kenne ich, was brauche ich. Wenn etwas Schlimmes passiert, kommen wir — wenn es uns unvorbereitet trifft — schnell ins Schwimmen, und die Panik hat uns im Griff. Damit das gar nicht erst passiert, mach dir doch jetzt schon mal Gedanken, worauf du immer zurückfallen könntest:

Was habe ich, und was kann ich: Damit meine ich deine Ressourcen, und zwar alle. Nicht nur Haus, Auto und das, was du auf dem Konto liegen hast. Welche Fähigkeiten hast du, wie könntest du dich zur Not über Wasser halten? Ich habe z. B. unter anderem Deutsch als Fremdsprache und Sinologie studiert und jahrelang nebenbei Deutsch und irgendwann auch Chinesisch unterrichtet. Ich weiß, wenn es hart auf hart kommt, kann ich das jederzeit wieder machen — noch ist Sprachunterricht sehr gefragt, und Chinesisch will sowieso gerade jeder lernen.

Wen kenne ich: Wie sieht’s mit deinem Netzwerk aus, mit deinem Freundeskreis? Sind da Menschen, auf die du dich verlassen kannst? Oder hast du deine Freunde, Familie und Bekannten letztens eher vernachlässigt? Dann wird es Zeit, sich wieder verstärkt um sie zu kümmern. Du findest das manipulativ? Opportunistisch? Das hat wahrscheinlich mit deiner kulturellen Sozialisierung zu tun. In den meisten Kulturen der Welt ist ein starker Zusammenhalt nämlich ganz normal. Nicht umsonst nennt man die deutsche Kultur „sachorientiert“ und die meisten anderen „beziehungsorientiert“. In beziehungsorientierten Kulturen gehört es zum Alltag, sich bewusst um seine Beziehungen zu bemühen und zu kümmern in dem Wissen, dass man vielleicht in schlechten Zeiten mal darauf zurückgreifen muss.

Ein tragendes Beziehungsnetz ist ein wichtiger Faktor um Ungewissheit mit Gelassenheit zu begegnen.

Was brauche ich: Was brauchst du wirklich? Du musst ja nicht gleich dein Auto verkaufen und in eine Einzimmerwohnung ziehen. Aber du kannst ausrechnen, wie viel Geld du allerwenigstens generieren müsstest, um existieren zu können. Das ist dann die Schlaf-Gut-Zahl, der Betrag also, bei dem du nicht nachts wachliegen würdest, weil du dir den Kopf zerbrechen müsstest, wovon du die nächsten Tage überleben sollst. Als nächstes überleg dir deine Wohl-Fühl-Zahl und auch hier ist ein absolutes Minimum gemeint, unter dem du dich eben nicht wohlfühlen würdest. Was brauchst du sonst noch unbedingt? Könntest du aufs Auto verzichten (falls du überhaupt eins besitzt)? Die meisten Menschen stellen fest, wenn sie sich über diese Fragen mal Gedanken machen, dass sie auch im Ernstfall weit besser dran wären, als sie befürchtet hätten, und das ist eine großartige Erkenntnis.

2. Versuche wirklich nur, einen Fuß vor den anderen zu setzen und nicht schon an die über- und überübernächsten Schritte zu denken. Das ewige Kreisen um „Was aber, wenn…“ ist nicht wirklich hilfreich, weil man schlicht nicht sagen kann, was passieren wird. Du weißt nicht, welche Begegnungen du haben, welche neue Ideen dir kommen werden. Die Zukunft ist ein offenes System mit zu vielen Unbekannten in der Gleichung. Sie ist zu komplex um wissen zu können, was sie bereithält. Übrigens ist Zukunft immer schon der nächste Moment, die Gegenwart ist genau genommen nur der Augenblick zwischen Vergangenheit und Zukunft. Es macht also wenig Sinn, sich vor der Zukunft zu sorgen, weil man zumindest die eigene Zukunft in jedem Moment gestalten kann — Schritt — für Schritt — für Schritt.

Black board with difficult looking equation
Die Zukunft ist wie eine Gleichung mit zu vielen Unbekannten — zu komplex um sie vorherzusagen.

3. Trainiere dein Gehirn! Ungewissheit fordert oft Improvisationstalent, dafür braucht man Kreativität und Kreativität kann man üben. Zum Beispiel, in dem man seinem Hirn hilft flexibel zu bleiben bzw. zu werden. Unser Hirn ist nämlich faul. Oder wie man es auch ausdrücken könnte: es ist effizient. Es verbraucht nämlich ganz schön viel Energie bei seiner Arbeit und versucht deshalb möglichst wirtschaftlich mit den Kalorien zu haushalten. Eigentlich eine tolle Sache, aber für Kreativität sind wir nunmal drauf angewiesen, dass sich die grauen Zellen anstrengen.

Ungewissheit fordert Kreativität und dafür muss dein Hirn in der Lage sein, schnell neue Synapsen zu bilden.

Der Schlüssel liegt in den Synapsen, das sind die Verbindungen zwischen unseren Neuronen (Nervenzellen). Je mehr Synapsen wir bilden, desto kreativer können wir zum Beispiel assoziieren und Assoziation ist ein ganz zentraler Faktor für Kreativität. Unser Hirn benutzt aber lieber die sogenannten neuronalen Autobahnen, wir müssen es also unterstützen, diese Autobahnen zu verlassen und neue Wege anzulegen, sprich Synapsen aufzubauen. Das Tolle: Das ist gar nicht schwer! Eigentlich musst du dich bzw. dein Gehirn nur regelmäßig fordern etwas Neues zu tun bzw. etwas anders zu machen als sonst. Du kannst dafür die Zähne mit der anderen Hand putzen. Oder das Alphabet rückwärts aufsagen. Natürlich nur so lange, bis es dich nicht mehr anstrengt. Dann muss eine neue Herausforderung her. Ach ja: Und wenn sich Widerstände melden, dann machst du alles genau richtig!

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The Seasick Sailoress

Uncertainty Expert | Future Thinker | Blue Water Sailoress Hallo I’m Rike. When I’m not thinking about uncertainty and randomness, I sail the oceans.